Es scheint unerschrocken – will aber eigentlich nur fressen

Beim Rotkehlchen fällt mir immer besonders auf, dass es so unerschrocken scheint und Menschen bis auf Armlänge an sich heranlässt… Aber das hat nichts mit Mut zu tun!

Eigentlich wartet der kleine, rundliche Vogel mit der wunderschönen roten Brust darauf, dass vorbeikommende große Tiere (und dazu gehören auch wir Menschen) Insekten aufwirbeln, die dann leichte Beute für das Rotkehlchen sind.

Rotkehlchen sind in Deutschland „Teilzieher“, das heißt, dass einige Vögel das gesamte Jahr über in unseren Breiten bleiben, andere jedoch in der kalten Jahreszeit kurze Strecken in wärmere Gefilde ziehen. Sie kommen im Wald, in Parks und Gärten vor. Wer zwischen dem 8. und 10. Januar bei der „Stunde der Wintervögel“ mitmacht, wird einige der kleinen Sympathieträger mit der roten Brust entdecken.

Die Balz und Paarbildung beginnt bei den Vögeln, die nicht weggezogen sind, schon jetzt.

Das Nest wird am Boden zwischen Wurzeln, in Erdlöchern oder im Gras gebaut. Auch niedrig hängende Halbhöhlen-Nistkästen werden oft angenommen. Die Brutzeit beginnt Anfang April und endet im Juli. Das Weibchen legt zwischen drei und sieben gelbliche Eier mit zahlreichen rotbraunen Punkten und Linien. Nach 12 bis 15 Tagen schlüpfen die Jungvögel. Gefüttert wird dann von beiden Elternteilen. Die Jungen verlassen das Nest nach 13 bis 15 Tagen. Zwei Bruten pro Jahr sind übrigens keine Seltenheit.

Und weil das Rotkehlchen so beliebt ist, gibt es auch einige schöne Märchen und Geschichten, wie zum Beispiel die von Selma Lagerlöf:

„Denke daran, dass Du Rotkehlchen heißen sollst!“ sagte der liebe Gott zu dem Vogel, als er fertig geworden war. Und er setzte ihn auf seine Handfläche und ließ ihn fliegen.

Und als das Vöglein eine Weile umhergeflogen war und die schöne Erde betrachtet hatte, auf der es nun leben sollte, spürte es auch Lust, sich selber zu beschauen. Da merkte es, dass es ganz grau war, und dass seine Brust ebenso grau wie alles andere aussah. Das Rotkehlchen drehte und wendete sich hin und her und spiegelte sich im Wasser, aber es vermochte kein einziges rotes Federchen an sich zu entdecken.

Da flog das Vöglein zum lieben Herrgott zurück.

Unser lieber Herrgott saß gütig und mild auf seinem Thron, aus seinen Händen lösten sich Schmetterlinge, die sein Haupt umflatterten, Tauben gurrten auf seinen Schultern und rings um ihn her entsproßten der Erde Rosen, Lilien und Tausendschönchen.

Das Herz des Vögleins pochte vor Angst heftig in seiner kleinen Brust, aber in leichten Bogen flog es näher und näher auf den lieben Herrgott zu und setzte sich schließlich auf seine Hand.

Da fragte der himmlische Vater, was es von ihm wünsche, und das Vöglein antwortete:
„Ich möchte Dich nur noch etwas fragen.“
„Was willst Du also wissen?“

„Warum soll ich denn Rotkehlchen heißen, wenn ich doch vom Schnabel bis zur Schwanzspitze ganz grau bin? Warum werde ich Rotkehlchen genannt, wenn ich doch kein einziges rotes Federchen besitze?“

Und das Vöglein blickte mit seinen großen, schwarzen Augen flehend zu Gott dem Herrn empor und wandte das Köpfchen hin und her. Rundum erblickte es Fasanen, deren rotes Gefieder leicht mit Goldstaub gesprenkelt war, Papageien mit buschigen, roten Halskragen, Hähne mit roten Kämmen, und nun erst die Schmetterlinge, Goldfische und Rosen. Natürlich dachte das Vöglein bei diesem Anblick, wie wenig dazu gehörte – und wenn es nur ein einziger, kleiner Tropfen Farbe auf seiner Brust wäre – um es zu einem schönen Vogel zu machen, so dass sein Name passen würde.

„Warum soll ich Rotkehlchen heißen, wenn ich doch ganz grau bin?“ wiederholte das Vöglein und erwartete, dass der liebe Gott sagen würde: „Ach, mein kleiner Freund, ich merke, dass ich vergessen habe, die Federn auf Deiner Brust rot anzumalen, aber warte nur einen Augenblick, dann wird die Sache bald erledigt sein.“

Doch der liebe Gott lächelte nur mild und sprach: „Ich habe Dich Rotkehlchen genannt, und Rotkehlchen sollst Du heißen, doch musst Du selber zusehen, dass Du Dir Deine roten Brustfedern verdienen magst.“ Und dann erhob Gott der Herr die Hand und ließ den Vogel aufs neue in die Welt hinausflattern.