Artenvielfalt und Sandgewinnung
Als Rohstoffunternehmen wissen wir, dass es in der Dynamik unserer Tagebaue viele seltene Tiere und Pflanzen gibt. Die Dynamik, die wir mit dem Abbau der Roherde schaffen, bringt einen Ersatzlebensraum für frühere sandige Flächen hervor, die durch Hochwasser oder Böschungsrutschungen ganz natürlich entstanden sind. 23 Expert(inn)en haben nun ehrenamtlich sechs Jahre lang auf einem unserer Gelände in Haltern-Flaesheim Tiere und Pflanzen untersucht und eine erstaunliche Vielfalt belegt.
Initiator der Untersuchungen ist der Diplom-Biologe Karsten Hannig. Er hat zusammen mit seinen Kolleg(inn)en über die Ergebnisse eine Abhandlung in Form eines über 700 Seiten dicken Buches verfasst, das jetzt veröffentlicht wurde.
Herr Hannig, was hat Sie an dieser Fläche so gereizt?
Im Wesentlichen gab es vier ausschlaggebende Argumente, die die Sandabgrabung bei Haltern-Flaesheim für eine solch umfangreiche Biodiversitätsstudie geeignet erscheinen ließen:
1) Als wichtigsten Grund möchte ich die Lebensraum-Ausstattung der Untersuchungsflächen anführen. Ich zitiere: …„Sandlebensräume, wie z. B. Sandheiden oder Binnendünen, sowie Moorkomplexe bedeckten während des Mittelalters und der frühen Neuzeit riesige Flächen des nordwestdeutschen Tieflands. Im südlichen Münsterland war die Landschaft zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts zu ca. 90 % von Nieder- und Hochmooren sowie trockenen und feuchten Heiden geprägt … Aufgrund des Landnutzungswandels und des damit verbundenen Rückgangs traditioneller Bewirtschaftungsformen sowie zunehmender Aufforstung nahm der Anteil der ehemals weit verbreiteten Habitattypen in den letzten 100 Jahren rapide ab… Dies hatte zur Folge, dass trockene Sandlebensräume, wie beispielsweise Sandtrockenrasen oder Calluna– und Juniperus-Heiden, zu den am meisten gefährdeten Lebensräumen in Nordrhein-Westfalen gehören… Aus naturschutzfachlicher Sicht sind diese Entwicklungen gleichermaßen relevant und alarmierend, da Sandlebensräume eine Vielzahl spezialisierter und seltener Arten beherbergen…Viele dieser Arten sind aufgrund veränderter Habitatbedingungen – fehlende Habitatdynamik, fortschreitende Sukzession, erhöhte Nährstoffeinträge – und dem daraus resultierenden Flächenrückgang stark in ihrer Existenz bedroht und es scheint dringend geboten, diesen negativen Entwicklungen entgegen zu wirken. So stellen neben aktiven militärischen Übungsplätzen beispielsweise auch Sand- und Kiesabgrabungsflächen für diese auf frühe Sukzessionsstadien angewiesenen Arten geeignete Rückzugsräume dar.“
Nachdem ich bereits 2009 zusammen mit dem Naturschutzzentrum Kreis Coesfeld und insgesamt 21 Fachkolleg(inn)en ein vergleichbares Buchprojekt über den ehemaligen Truppenübungsplatz Haltern-Borkenberge veröffentlicht habe, stellte ich ab Projektbeginn in 2014 sukzessive ein 23köpfiges Expert(inn)enteam zusammen, um vorrangig die Sandlebensräume zu untersuchen. Dabei ist es dann bekanntlich nicht geblieben, da sich auch andere Lebensraumtypen (z. B. Schilfröhrichte) als hoch interessant herausstellten.
2) Das Alter der Sandabgrabung von ca. 100 Jahren ließ den Rückschluss zu, dass die Flächen als Refugial-Lebensräume für Organismen dienen könnten, deren natürliche Lebensräume (z. B. an der Lippe) bereits seit vielen Jahrzehnten verschwunden sind. Wie z. B. im Laufkäferartikel nachzulesen ist, bestätigte sich der Verdacht dann auch recht schnell.
3) Die Anbindung an den Wesel-Datteln-Kanal ist landesweit einzigartig (siehe Fischartikel) und sorgt für künstliche Wasserstandsschwankungen, also eine Gewässerdynamik, wie sie natürlicherweise kaum noch vorkommt. In Kombination mit dem Alter der Abgrabung (siehe oben) ließ dies wiederum den Rückschluss zu, dass die Ufer-Lebensräume Lebensgemeinschaften beherbergen könnten, wie sie früher an natürlichen Fließgewässerufern mit hoher Dynamik vorkamen. Auch diese Hypothese hat sich bestätigt, da die Laufkäferzönose sogar bundesweit als bedeutsam zu gelten hat.
4) Und letztendlich ist auch ein pragmatisches Argument wichtig, nämlich die Erreichbarkeit bzw. räumliche Nähe zu meinem Wohnort Waltrop, die es mir ermöglicht, innerhalb von 20 Minuten im Untersuchungsgebiet zu sein. Da ich im Laufe der letzten sieben Jahre viele hundert Male mit meinen Fachexpert(inn)en zu jeder Tages- und Nachtzeit dort gewesen bin, wäre eine weite Anreise ein Ausschlusskriterium für eine solche zeit- und arbeitsintensive ehrenamtliche Untersuchung.
Was war der Vorteil von 23 Expert(inn)en? Das kann ja durchaus auch schwer zu koordinieren sein.
Der Vorteil ist kurz gesagt das gesammelte Fachwissen, mit dem es uns als Expert(inn)en- bzw. Autor(inn)en-Team möglich war, ein auch überregional bedeutsames Biodiversitäts-Abbild dieser Fläche zu dokumentieren. Dank unserer versierten und erfahrenen Kenner(inn)en der Fauna und Flora konnten wir dabei auch Tiergruppen berücksichtigen, die die Öffentlichkeit nicht oder kaum kennt (u. a. Springschwänze, Hundert- und Tausendfüßer) oder die ein unberechtigt schlechtes Image haben (Spinnentiere, Wanzen), da beim Thema Insektensterben überwiegend ausgewählte „werbewirksame Insektengruppen“, wie z. B. Bienen und Schmetterlinge in den Medien thematisiert werden.
Und ja, die Koordination und Logistik eines ausschließlich ehrenamtlichen Projekts mit diesem Umfang und Arbeitsaufwand über inzwischen sieben Jahre ist eine sehr ambitionierte Aufgabe neben den ganzen fachlichen Herausforderungen.
Was sind für Sie die auffälligsten Funde? Können Sie uns bitte jeweils ein Beispiel aus dem Tier- und aus dem Pflanzenreich nennen?
Da wir fast 3200 tierische und pflanzliche Organismenarten mit den unterschiedlichsten ökologischen Ansprüchen nachweisen konnten, fällt eine Auswahl sehr schwer. Faunistisch besonders interessant ist der Umstand, dass wir sieben Wirbellosenarten dokumentieren konnten, die vorher aus Nordrhein-Westfalen noch gar nicht bekannt waren. Dazu gehören eine Laufkäfer-, eine Wanzen- und eine Springschwanzart sowie zwei Köcherfliegen- und zwei Spinnenarten. Vier Käferarten und eine Hautflüglerart waren neu für Westfalen, während ein Wiederfund für Nordrhein-Westfalen und sieben Wiederfunde für Westfalen im Rahmen der erfassten Käferfauna gelangen.
Da Sie aber explizit nach je einem Beispiel aus der Tier- und Pflanzenwelt gefragt haben, möchte ich exemplarisch auf eine Springspinnenart mit dem deutschen Namen „Dreispitziger Sonnenspringer“ hinweisen, die wir erstmalig für Nordrhein-Westfalen dokumentieren konnten. Die Art ist bundesweit, sieht man von zwei isolierten Funden ganz im Süden von Baden-Württemberg ab, nur aus einem recht eng umgrenzten Areal bekannt, das deutlich wärmegetönte Lagen von Rheinland-Pfalz, Saarland und Rheinhessen umfasst, und zwar insbesondere an Mosel, Nahe und am Rhein. Die bisher nördlichsten bekannten Nachweise erfolgten in der Ahreifel sowie bei Linz am Rhein, so dass mit einem Vorkommen der Art in den angrenzenden nordrhein-westfälischen Teilen von Eifel und Siebengebirge zu rechnen wäre. Der westfälische Fund in einer Sandlandschaft im Lippegebiet bei Haltern fällt dagegen deutlich aus dem Rahmen und überraschte auch die Fachwelt. Es handelt sich um den derzeit nördlichsten in Europa bekannten Fundort der Art!
Als bemerkenswerte Pflanzenart ist das Kleine Wintergrün zu nennen, das in Europa schwerpunktmäßig boreo-alpin verbreitet ist und in Nordrhein-Westfalen demzufolge Verbreitungsschwerpunkte in der Eifel, im Süderbergland sowie im Weserbergland (inkl. Teutoburger Wald) aufweist. Von der im Flachland (z. B. der Westfälischen Bucht) auch historisch nur sehr selten nachgewiesenen Art liegen überwiegend Altnachweise vor und auch aus dem Kreis Recklinghausen waren keine aktuellen Vorkommen bekannt. Das in der Roten Liste der gefährdeten Blütenpflanzen geführte Kleine Wintergrün bevorzugt beschattete Standorte auf mäßig frischen und eher sauren, modrig-humosen Böden auf Lehm- oder Sanduntergrund. Das der Sandabgrabung bei Haltern-Flaesheim nächstgelegene historische Vorkommen des Kleinen Wintergrüns stammt von dem ehemaligen Truppenübungsplatz Haltern-Borkenberge aus dem Jahre 1880. Es handelt sich also um einen Wiederfund auf Kreisebene.
Insgesamt haben Sie und Ihr Team über 3000 verschiedene Arten auf einer 113 Hektar großen Fläche gefunden. Wie ist das einzuordnen? Ist das besonders viel?
Ja, wir haben bis zum Abschluss der Datenerhebungen für das vorliegende Buch Ende 2019 tatsächlich insgesamt fast 3200 verschiedene Organismenarten auf einer nur 113 ha großen Fläche nachgewiesen, von der die Hälfte noch auf das Abgrabungsgewässer fällt. Damit ist die Biodiversität, also die Artenvielfalt, bezogen auf die geringe Größe der Untersuchungsflächen als hoch bis sehr hoch einzustufen. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen:
Wir haben von den drei am besten untersuchten Wirbellosengruppen „Laufkäfer“, „Wanzen“ und „Webspinnen“ in dieser Reihenfolge 51 %, 44 % und 43 % der Gesamt-Landesfauna Nordrhein-Westfalens in der Sandabgrabung bei Haltern-Flaesheim nachgewiesen! Bezogen auf die geringe Flächengröße ist dies landesweit nachweislich einzigartig und es wird selbst bundesweit schwer fallen, eine vergleichbare Artenvielfalt auf solch kleinem Raum zu finden.
Wie geht es jetzt für Sie weiter – was ist Ihr nächstes Projekt?
Das ist einfach zu beantworten; wir setzen das Projekt fort und arbeiten bereits mit Nachdruck an dem ersten Nachtrag, da es in der Sandabgrabung noch viel zu entdecken gibt! Da die Datenerhebung für das erschienene Buch 2019 endete, verrate ich nicht zu viel, dass wir neue Fachexpert(inn)en für bisher unbearbeitete Insektengruppen, wie z. B. die Zikaden oder Kleinschmetterlinge gewinnen konnten, und bereits in 2020 wieder mehr als 300 neue Organismenarten nachgewiesen wurden. Es bleibt also spannend…